Der Weg der verfehlten Agrarpolitik

Aus DER RABE RALF Juni/Juli 2024, Seite 13

Das Agrardiesel-Aus hat massenhaft Trecker in Gang gesetzt – wer die Vorgeschichte kennt, weiß, warum

Nicht wachsen, nicht weichen, das schaffen wenige Bauern. (Foto: Johann Thun)

Während der Bauernproteste waren in verschiedenen Zeitungen Sätze wie der folgende zu lesen: „Die Streichung der Dieselöl-Rückvergütung und die Beendigung der Steuerbefreiung für landwirtschaftliche Fahrzeuge sind nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“ Was aber war das für ein Fass?

Kern der Agrarpolitik war seit 75 Jahren, dass – wie alle anderen Wirtschaftsbereiche – sich jetzt auch die Landwirtschaft industrialisieren müsse. Bis dahin hatte es eine „Symbiose zwischen dem bäuerlich-handwerklichen und dem industriellen Sektor“ gegeben: Die Arbeits- und Flächenproduktivität war über einen langen Zeitraum allmählich, aber deutlich gestiegen. Grundlage waren immer bessere Kenntnisse über die biologischen Prozesse in der Landwirtschaft, wie Fruchtfolgen, Pflanzen- und Tierzüchtung. Anders als bei Produktivitätssteigerungen in der Industrie erfolgte aber keine Verdrängung von Arbeit durch Kapital. Die Zahl der bäuerlichen Betriebe blieb stabil.

Bald nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte eine Neuorientierung: Durch technischen und chemischen „Fortschritt“ sollte die Produktivität in der Landwirtschaft schneller gesteigert werden, die Lebensmittelpreise sollten sinken und die Bauern und Landarbeiter sollten zur Industriearbeit wechseln. So geschah es – die Agrardiesel-Rückvergütung in der Bundesrepublik geht auf diese Zeit zurück.

Auf den Weltmarkt ausgewichen

In Westdeutschland führten die wachsenden Überschüsse in den 1970er Jahren auf mehreren Märkten wie Milch, Fleisch und Getreide allerdings nur bei der Milch durch Einführung einer Quote zu einer (vorübergehenden) Verlangsamung der von Agrarwirtschaft und Agrarökonomen geforderten Industrialisierung. Die zunehmenden Überschüsse wie auch die aufkommenden Umweltprobleme, die als Folge der übermäßigen Stickstoffdüngung im Grund- und Oberflächenwasser auftauchten, bewirkten jedoch kein Infragestellen des Prinzips „Wachse oder weiche“. Stattdessen versuchte die Politik, die Probleme durch Erschließung neuer Märkte in Drittländern zu lösen.

Die Aufgabe eines eigenständigen Preisniveaus der EU hatte nicht nur die Einführung des Direktzahlungssystems für landwirtschaftliche Betriebe zur Folge, sondern auch die Halbierung der Preise für Futtermittel. Die europäische „Veredelungsindustrie“ wie auch die Intensivierung der Milchviehhaltung nahmen erst jetzt richtig Tempo auf. Einige Jahre schien das auch zu funktionieren: Die Lebensmittelpreise in der EU blieben niedrig, viele Landwirte glaubten den von der Politik und der wissenschaftlichen Agrarökonomie beschriebenen großartigen Absatzperspektiven auf den Weltmärkten und investierten in noch effizientere Technik und noch rationellere Stallsysteme. Die Politik unterstützte dies durch Subventionierung der Investitionskosten und versuchte ansonsten, die Probleme wegzudrücken.

Immer mehr Probleme der Industrialisierung

Die Flucht auf die Drittlandsmärkte geriet zum Fiasko – in folgender politischer Reihenfolge: Die EU-Administration, die der Untätigkeit der deutschen Politik bei den Stickstoff- und Phosphorüberschüssen mehr als zwei Jahrzehnte zugesehen hatte, verlangte endlich nachprüfbare Änderungen. Die daraufhin ausgewiesenen nitratbelasteten „roten Gebiete“ schienen für die Landwirte die Strategie des intensiven Ackerbaus und der intensiven Grünlandnutzung grundsätzlich infrage zu stellen.

Dazu kamen die gesundheitlichen Probleme der Nutztiere in den Ställen, die mit der intensivierten Tierhaltung deutlich zugenommen hatten und jetzt nicht mehr nur von einigen kritischen Bauern, Bäuerinnen und Agrarwissenschaftlern benannt wurden. Durch spektakuläre Aktionen von Umwelt- und Tierschützern wurden die Missstände in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Auch wenn manches überzogen und marktschreierisch war – es traf das Problem, das viele Bauern, der Bauernverband und die Politik nicht sehen wollten.

Schließlich sorgte das Auftreten der Afrikanischen Schweinepest dafür, dass die „Schweinebranche“, die sich ganz besonders intensiv auf die Drittlandexporte ausgerichtet hatte und bei der es auch in ganz besonders intensiver Weise zu einer Verdrängung von Betrieben mit kleinen und mittleren Beständen gekommen war, ihr Desaster erlebte.

Es gab frühe Kritik an den vorhersehbaren Folgen der Industrialisierung der Landwirtschaft, es gab viele Initiativen von Bauern und Bäuerinnen für eine Landwirtschaft, die auf Dauer bestehen kann, es gab spektakuläre Aktionen wie den Milchablieferstreik 2008 und den Hungerstreik von Bäuerinnen vor dem Bundeskanzleramt 2009 – nichts verhalf der Politik zur Einsicht. Als der Umfang der Proteste immer größer wurde, folgte der Versuch, die Problemlösung auf Kommissionen abzuschieben, um mit der Strategie des Aussitzens weitermachen zu können.

Die Grundlage für eine Neuausrichtung wäre da

Es trat jedoch etwas ein, womit die Politik nicht gerechnet hatte: Diese Kommissionen aus Praktikern, Wissenschaftlern und Vertretern eines breiten gesellschaftlichen Spektrums brachten substanzielle Ergebnisse. Die „Zukunftskommission Landwirtschaft“ formulierte zum Beispiel – als Forderung an die Politik – die grundlegende Erkenntnis, dass eine von der Gesellschaft akzeptierte Landwirtschaft nur möglich ist, wenn die Landwirte und Landwirtinnen für ihre Erzeugnisse faire Preise bekommen, die sowohl die Kosten der Produktion abdecken als auch ein angemessenes Einkommen ermöglichen. Und die Borchert-Kommission schlug ein Finanzierungsmodell vor, mit dessen Hilfe die komplette Tierhaltung so umgebaut werden könnte, dass die Tiere bessere Haltungsbedingungen haben und auch die tierhaltenden Betriebe angemessene Erlöse erzielen sollten.

Besonders der zweite Vorschlag weckte große Hoffnungen in der Landwirtschaft, wieder zu einer von der Gesellschaft akzeptierten und unterstützten Wirtschaftsweise zu kommen. Doch nach einer von der CDU gestellten Landwirtschaftsministerin unternahm auch der Landwirtschaftsminister von den Grünen keine Schritte, um die Vorschläge der beiden Kommissionen – die durchaus unterschiedlich waren – zur Grundlage einer Neuausrichtung der Landwirtschaft zu machen. Dann fehlte nur noch ein Funke an der Lunte oder eben der Tropfen für das volle Fass.

Onno Poppinga

Der Autor ist emeritierter Professor für Agrarpolitik an der Universität Kassel.

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