„Der geht neben einem, der bleibt da“

Aus DER RABE RALF Juni/Juli 2024, Seite 19

Eine Tagung und weitere Veranstaltungen erinnern endlich angemessen an Erich und Zenzl Mühsam

Zenzl und Erich Mühsam nach der Haftentlassung Ende 1924 in Berlin. (Foto: Erich-Mühsam-Gesellschaft)

Zwei runde Jahrestage fallen dieses Jahr zusammen, die auch das Leben verwoben hat: Am 10. Juli vor 90 Jahren wurde der Publizist, Anarchist und Antifaschist Erich Mühsam (1878-1934) im KZ Oranienburg bei Berlin ermordet, was Anlass ist, Anfang Juli mit einer Tagung an ihn zu erinnern. Und am 28. Juli vor 140 Jahren wurde Kreszentia Mühsam (1884-1962), genannt Zenzl, seine Gefährtin und Mitstreiterin über den Tod hinaus, in dem kleinen niederbayerischen Ort Haslach geboren.

Zwar gebürtiger Berliner, war Erich Mühsam in Lübeck aufgewachsen. Wieder nach Berlin gelangte er 1900. Nach Wanderjahren, die ihn bis Paris und Genua führten, ließ er sich 1908 in München nieder, wo er Zenzl Elfinger kennenlernte. Mit der Heirat im September 1915 schiffte er sich in „den rettenden Hafen“ ein, den er in der Beziehung zu Zenzl schon früh erkannte. Gemeinsam beteiligten sie sich an der Novemberrevolution 1918. Als diese im Frühjahr niedergeschlagen wurde, kamen beide nur knapp mit dem Leben davon. Erich wurde zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, Zenzl setzte sich unermüdlich für seine Freilassung ein.

Gemeinsame Jahre in Berlin

Die gemeinsame Zeit in Berlin beginnt Ende 1924 nach Erichs Entlassung. Eine Amnestie, die auf die Befreiung Hitlers zielte, hat auch ihn befreit. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist nun der Einsatz für politische Gefangene, ein anderer die Bildung einer Einheitsfront gegen den erstarkenden Nationalsozialismus. Immer wieder weist er auf die sich häufenden Anzeichen hin, dass „die Staatsmaschinerie in Deutschland dem Faschismus überliefert werden soll“. Noch im Juli 1932 ruft er zum Generalstreik auf. Doch die Gewerkschaften vertrösten das Proletariat auf die bevorstehende Reichstagswahl – bei der die NSDAP stärkste Kraft werden wird.

Die Situation für die Mühsams wird nun immer bedrohlicher. Nachdem Goebbels im Dezember 1932 mit der Mordhetze gegen Erich begonnen hat, draußen schneit es schon, schlagen die Nazis ihnen die Scheiben ein. Zenzl ist krank. Die bürgerlichen Blätter nehmen keine Beiträge mehr von Erich an. Trotzdem bringen sie „zwei oder drei Flüchtlinge“ bei sich durch. Ihre eigene Flucht aber verzögert sich, obwohl sie fast täglich Todesdrohungen erhalten.

Erichs Leidensweg

Schließlich wird die Flucht für den 26. Februar 1933 geplant, doch die Abreise wegen ausstehender Honorare um ein paar Tage verschoben. Als in der Nacht zum 28. Februar der Reichstag brennt, wird Erich aus dem Bett heraus verhaftet. Sein „Leidensweg“ beginnt.

Im KZ Brandenburg lässt Goebbels sein Foto mit der Aufschrift „Der Geiselmörder Mühsam“ unter den Wachmannschaften verteilen, was die ohnehin eskalierende Brutalität gegen den Juden und politischen Gegner auf die Spitze treibt. Die Misshandlungen, denen er fast täglich ausgesetzt ist, sind schwer zu fassen, noch schwerer, dass er dennoch standhaft bleibt. Als man ihn auffordert, das Horst-Wessel-Lied zu singen, singt er die „Internationale“. Nachdem man ihn fast zu Tode gequält hat, legt man ihm nahe, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Er lehnt ab. In der Nacht zum 10. Juli 1934 wird Erich Mühsam im KZ Oranienburg ermordet.

Zenzls Leidensweg

Als ihr Mann am 16. Juli bestattet wird, flieht Zenzl Mühsam nach Prag. Man hat sie gewarnt, die Gestapo wolle sie direkt nach der Beisetzung verhaften. An Erichs Leichnam hatte sie sich geschworen, der Welt über die Nazigräuel die Augen zu öffnen. Zudem kämpft sie nun um die Rettung seines Werks. Nachdem es ihr gelingt, den Nachlass nach Prag bringen zu lassen, widmet sie sich seiner Herausgabe. Dem Freund und Lektor Alexander Berkman teilt sie mit, man habe ihr geraten, mit den „Unpolitischen Erinnerungen“ zu beginnen, die Erich nach seiner Entlassung aus der Festungshaft geschrieben hat. „Des Weiteren denke ich, dass es zeitgemäß wäre, die politischen Abhandlungen gegen den wachsenden Faschismus … herauszugeben.“

Wegen ihrer Broschüre über den „Leidensweg Erich Mühsams“, die 1935 im exilierten Verlag der Roten Hilfe erscheint, wird Zenzl ausgebürgert. Weil Innenminister Wilhelm Frick ihre Schilderungen als „Lügenmärchen“ bezeichnet, fordert sie ihn öffentlich heraus, sie zu widerlegen.

Als Zenzl in Prag keine Perspektiven mehr sieht, lässt sie sich unter anderem durch Versprechungen von Wilhelm Pieck, die Werke ihres Mannes in der Sowjetunion zu veröffentlichen, nach Moskau locken. Sie wird in verschiedene Projekte involviert und immer weiter hingehalten. Schließlich fasst sie den folgenschweren Entschluss, sich Erichs Nachlass zusenden zu lassen. Als dieser eingetroffen ist, wird sie im April 1936 das erste Mal verhaftet. Nachdem sich internationaler Protest erhebt, wird sie im Oktober zunächst wieder auf freien Fuß gesetzt. In den USA setzen sich Rudolf Rocker und Roger Baldwin für sie ein. Eine Ausreise dorthin ist geplant, was dazu führt, dass sie im November 1938 erneut verhaftet wird. Durch Herbert Wehner als Trotzkistin denunziert, wird sie monatelang verhört und gefoltert, ohne sich jedoch ein Geständnis abpressen zu lassen. Im September 1939 wird sie gleichwohl zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt und tritt eine Odyssee durch das Lagersystem an. Von der Haft gezeichnet, krank, völlig mittellos und ohne Pass spuckt dieses sie im November 1946 wieder aus. Sie irrt einige Monate herum, verbringt etliche Wochen bettelnd im Bahnhof von Nowosibirsk und gelangt im März 1947 schließlich nach Moskau. Ihre Bemühungen um eine Rückkehr in die Sowjetische Besatzungszone werden von der SED-Führung hintertrieben, die zugleich damit beginnt, das Gedächtnis ihres Mannes zu vereinnahmen.

Inzwischen aus Moskau ausgewiesen, wird Zenzl im Februar 1949 zum dritten Mal verhaftet und überlebt unter fürchterlichen Bedingungen in der „speziellen Verbannung“ bei Nowosibirsk. Erst eineinhalb Jahre nach Stalins Tod 1953 wird sie entlassen. Im März 1955 erhält sie endlich einen deutschen Pass und kommt Ende Juni in Ost-Berlin an. Über ihre Erlebnisse in der Sowjetunion gebietet man ihr zu schweigen.

Die letzte Etappe

Umgehend bemüht sich Zenzl um Fotokopien von Erichs Nachlass. Diese werden auch größerenteils übersandt, doch nicht an sie, sondern an das ZK der SED. Die frühe DDR kann Erich Mühsam nur als „Opfer des Faschismus“ brauchen. Lediglich die „Unpolitischen Erinnerungen“ können 1949 erscheinen und 1958 eine Auswahl von Gedichten. Wenigstens die wirtschaftliche Not ist nun vorüber. Von alten Freunden umgeben kann Zenzl eine Wohnung in der Binzstraße 17 in Pankow beziehen – wo seit März 2024 wieder eine Gedenktafel an sie erinnert. Eine ähnliche Tafel, die 2015 eingeweiht worden war, wurde immer wieder mit brauner Farbe beschmiert und vor zwei Jahren entwendet. „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“, hat William Faulkner geschrieben. Der Sieg über den Faschismus steht heute wieder in Frage.

Zenzl und Erich Mühsam sind ihren Weg gemeinsam gegangen: „Ich weiß, dass der Mensch nicht einfach stirbt, keiner“, schrieb Zenzl 1937 in einem Brief. „Jeder hinterlässt einen leichten Schatten. Aber Erich, der steht neben einem, der geht neben einem, der bleibt da.“ Gut so, wir werden ihn brauchen.

Jan Rolletschek 

Tagung, Ausstellung und weitere Veranstaltungen: www.kulturverein-eden.de/Muehsam

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