Staudamm-Rückbau in Frankreich

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2022, Seite 18

Das Sélune-Flussprojekt in der Normandie zeigt die Schattenseiten von Wasserkraftwerken

Der Rückbau des Staudamms La Roche-qui-Boît beginnt mit über einem Jahr Verspätung in diesem Herbst. (Foto: Athénaïs Georges)

Der Fluss Sélune fließt durch die Normandie im Norden Frankreichs. Er ist 85 Kilometer lang und mündet in den Ärmelkanal. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Durchgängigkeit des Flusses durch den Bau von zwei großen Staudämmen stark beeinträchtigt: den flussabwärts gelegenen Staudamm La Roche-qui-Boît (15 Meter hoch, 125 Meter breit) und den flussaufwärts gelegenen Vezins-Staudamm (36 Meter hoch, 278 Meter breit). Die beiden Staudämme produzierten zusammen etwa 27.000 Megawattstunden Strom pro Jahr und lieferten Strom für 15.000 Einwohner. Es wurden erhebliche Veränderungen der Wasserqualität und des biologischen und biochemischen Zustands des Flusses beobachtet. An den beiden Staudämmen gab es keine Fischtreppe.

Als 2009 die Konzession für Vezins und La Roche-qui-Boît nicht verlängert wurde, kündigte das französische Umweltministerium an, dass die Staudämme 2012 entfernt werden sollten.

Europaweit beispielhaft

Das Sélune-Projekt gilt in der EU als beispielhaft. Es wird durch ein wissenschaftliches Programm überwacht, das 2012 begann und bis 2027 laufen soll. Im Jahr 2019 kam eine Beobachtungsstelle hinzu, die sich den Auswirkungen der Staudammbeseitigung widmet, von der Erfassung bis zur Veröffentlichung der Daten. Ziel des Sélune-Projekts war die Wiederherstellung der ökologischen Kontinuität zwischen den Land- und Meereslebensräumen, die das Flusseinzugsgebiet miteinander verbindet. Das Projekt sollte die Wiederherstellung von 90 Kilometern frei fließendem Fluss und damit die Durchgängigkeit für Fische und die Erholung der Ufervegetation ermöglichen. Die Entscheidung wurde auf der Grundlage der europäischen Wasserrahmenrichtlinie und des französischen Umweltforums „Grenelle“ von 2009 getroffen.

2014 begann die erste Phase der Trockenlegung des Vezins-Stausees, begleitet von der Freilegung der Sedimente. Durch eine Entscheidung der französischen Umweltministerin wurde der Prozess für drei Jahre unterbrochen. Es wurde eine neue Auswirkungsstudie durchgeführt. Zwischen September 2020 und September 2021 wurde der Staudamm dann außer Betrieb genommen – mit einem geplanten Budget von fünf Millionen Euro.

Misstrauen in Vezins

Der Rückbau des Vezins-Staudamms wurde aus mehreren Gründen beschlossen. Dabei ging es um die Wasserrahmenrichtlinie, die geringe Energieproduktion, die Unmöglichkeit, den Damm anzupassen, und das Risiko eines Dammbruchs, der die umliegende Bevölkerung gefährden würde. In dem Rückbauprojekt arbeiten Forschungsteams aus verschiedenen Disziplinen zusammen: Geistes- und Sozialwissenschaftler, Hydrologen, Geomorphologen und Biologen.

Nach Angaben von Sozialwissenschaftlern hatte das Sélune-Projekt mit mehreren Problemen zu kämpfen, vor allem mit großem Misstrauen unter der Bevölkerung des Dorfes Vezins, trotz öffentlicher Anhörungen 2006 und 2017. Der Verein „Les Amis du barrage“, der Freizeitaktivitäten rund um die Seen förderte, wurde ab 2007 zu einem Knotenpunkt dieser lokalen Opposition.

Alban Thomas, der Verantwortliche für das Informationssystem des Sélune-Projekts, weist darauf hin, dass einige Einwohner die Stauseen als natürliche und nicht als künstliche Seen betrachteten. In der Tat bietet der Stausee eine Vielzahl von Freizeitaktivitäten wie Fischerei und Sport. Er erwähnt auch, dass mit der Projektunterbrechung von 2014 bis 2017 auch das zugehörige Raumordnungsvorhaben gestoppt und seitdem nicht wirklich wiederaufgenommen wurde, was die Konflikte mit den Bürgern verschärfte.

Vor dem Abriss der Staudämme beobachteten Wissenschaftler das Vorkommen einer gebietsfremden welsartigen Fischart („Catfish“), die mit hoher Sicherheit für die Freizeitfischerei eingeführt wurde. Dieser Fisch ist ein großer Räuber für andere Arten wie den Lachs und machte 50 Prozent der Biomasse aus, als der Stausee geleert wurde. Auch Algen- und Cyanobakterienblüten, die eine Eutrophierung verursachen, waren in den Stauseen weit verbreitet.

Von der Flussmündung bis zum ersten Staudamm konnten die Lachse nur zehn Kilometer frei wandern – in Zukunft wieder durch den ganzen Fluss. (Foto: Athénaïs Georges)

Mit Blei verunreinigt

Einige Sedimente waren mit Blei verunreinigt und erforderten eine spezielle Behandlung. Um eine Verschmutzung zu vermeiden, wurden die Sedimente in Beton verpackt und mit nicht kontaminierten Sedimenten bedeckt, um neue Seitenwälle zu schaffen. Für die tiefsten Sedimente wurde sogenannte Georöhren, eingesetzt, um sie zu trocknen und dann auf die Uferböschungen zu legen, damit sie mit Ufervegetation besiedelt werden können.

Leider gab es vor dem Staudamm-Abriss keine Überwachung des Wasseraustauschs zwischen dem Grundwasser und den Stauseen. Seit 2019 wird dieser Austausch im Rahmen eines Projekts namens „Learn“ untersucht, aber es liegen noch keine Ergebnisse vor. Vor dem Abriss wurde auch keine Studie zur Luftqualität und zur Freisetzung von Treibhausgasen wie Methan oder CO₂ durchgeführt.

Die Beobachtungsstelle für die Sélune will die Auswirkungen der Staudamm-Entfernung überwachen. Dabei geht es zum einen um die Veränderungen von Wasser, Chemie und Sedimenten und zum anderen um die Biotope.

Die Entfernung der Staumauer von La Roche-qui-Boît war zwischen November 2021 und Frühjahr 2023 geplant, der Beginn wurde aber um mehrere Monate verschoben. Die Stromerzeugung wurde bereits eingestellt. Der Wasserstand wird niedrig gehalten, um die Ablagerung von Sedimenten zu verhindern.

Athénaïs Georges 

Die Autorin ist Mitarbeiterin im Bereich Wasser bei der Grünen Liga.

Weitere Informationen:
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www.grueneliga.de (Themen – Wasser)

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