Vom ”schönen Schein” zur Wirklichkeit: Was heutige Fortschrittskritik von früheren Bewegungen unterscheidet

Aus DER RABE RALF November 1996

Wie wir bisher sahen, richtet sich die Sehnsucht der Menschen in den Industrieländern auf das, was vorher im Zuge der Industrialisierung notwendigerweise zerstört wurde. Allerdings führte die Suche nach Ganzheit, nach Wiederversöhnung mit diesen zerstörten, abgespaltenen, ins ”Irrationale” verdrängten Teilen der Wirklichkeit nicht dazu, diesen mörderischen Modernisierungs- und Industrialisierungsprozeß als solchen in Frage zu stellen.

Während viele Menschen die westlichen Industrieländer immer noch als das ”Bild der Zukunft” ansehen, während viele versuchen, dorthin zu gelangen, um wenigstens in ihrem eigenen Leben einen Zipfel von diesem angeblich guten, reichen, freien Leben zu erwischen, bricht nun häufig bei denen, die in diesen Ländern leben, mitten im Schlaraffenland selbst der Ekel und die Verzweiflung über diesen Fortschritt und seine Folgen aus. Wenn wir nun fragen, was diese heutige ”Sehnsucht nach dem, was wir zerstört haben” von früheren, ähnlichen Gegenbewegungen unterscheidet und warum sie eben nicht, wie einige meinen, die bloße Wiederholung des ewig Gleichen seit der Aufklärung ist, dann ist zunächst zu fragen, was die heutige Situation von den damaligen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterscheidet.

Es geht ums Überleben, nicht um die Idylle

Es geht bei den heutigen Sehnsuchts- und Fluchtbewegungen nicht mehr nur um den schönen Schein der Harmonie mit der Natur, sondern, bedingt durch die Bedrohung der tatsächlichen, materiellen Existenzgrundlagen allen Lebens durch die industrialisierte Produktion und Konsumption, ums Überleben selbst.

Die Angst vor der Zukunft, das Unglücklichsein inmitten einer Überfülle von materiellen und nichtmateriellen Waren, hat in den letzten Jahren, besonders nach Tschernobyl, rapide zugenommen, gerade in den industriellen Zentren. Dieses Unglücklichsein hat auch eine andere Qualität bekommen. Ging es bei den früheren Sehnsuchts- und Gegenbewegungen, so auch noch in der 68er Studentenbewegung, hauptsächlich um das psychische und geistige Elend in den Industriegesellschaften – marxistisch gesprochen um Entfremdung -, so geht es inzwischen zunehmend um eine neue materielle Armut am Lebensnotwendigen mitten im Warenreichtum: Mangel an guter Luft, an unvergiftetem Wasser, an notwendiger Ruhe, an körperlicher Bewegung, an freiem Raum, an gesunder Nahrung, inzwischen schon an nicht dioxinverseuchter Muttermilch. Hinzugekommen ist die neue Armut in der Zweidrittel-Gesellschaft. Das psychische Elend und die Entfremdung sind außerdem nicht verschwunden. Aber es wird inzwischen immer deutlicher, daß es die Suche nach den lebensnotwendigen materiellen Existenzbedinungen ist, die die Menschen aus den Industrieländern in immer entferntere Weltgegenden treibt, wo es noch sauberes Wasser, gute Luft und Ruhe gibt. Und es wird auch immer klarer, daß durch eben jene Fluchtbewegungen, durch diese Sehnsüchtigen selbst auch in jenen Gegenden die letzten Reste von guter Luft, sauberem Wasser, Ruhe usw. zerstört werden (siehe z.B. die Algenpest an den Mittelmeerstränden). Die heutigen Fluchtbewegungen entstehen also aus einer anderen, existenziellen Dringlichkeit. Sie sind angeheizt von einer real begründeten Existenzangst, die nicht mehr nur auf dem Gegensatz „Reichtum für einige – Armut für viele“ oder dem Widerspruch zwischen schönem Traum und harter Wirklichkeit beruht, sondern auf der selbst erfahrenen und durch die moderne Wissenschaft belegte reale Bedrohung durch den Industrialismus. Die Katastrophe von Tschernobyl und der jedes Jahr stärkere Sommersmog stehen hier für viele solcher Industriekatastrophen, die das Vertrauen in dieses Industriesystem erschüttert haben.1 Daß dieses auf dauerndes Wachstum orientierte Industriesystem in die ökologische Katastrophe führen muß, haben zahlreiche Wissenschaftler seit Anfang der siebziger Jahre mit stets dringenderen Warnungen belegt.

Kritik an der Industriegesellschaft ist nicht reaktionär

Die linke Kritik an den Fortschrittsfeinden hat immer betont, daß die konservativ-romantische Fortschritts-, Industrie- und Kapitalismuskritik von den Angehörigen einer gesellschaftlichen Klasse getragen wurde, deren Existenz durch den Industriekapitalsmus bedroht wurde – also vor allem von feudalen Grundbesitzern. Deren Utopie sei daher rückwärtsgewandt und laufe auf die Erhaltung und Wiederherstellung feudal-patriarchaler Zustände und Privelegien hinaus.2

Heute sind es aber nicht feudale Grundbesitzer, die, wie Hoffmann von Fallersleben 1871, die Einzäunung der Landschaft beklagen – bei gleichzeitiger Ablehnung einer politischen Revolution – und deren ”Agrarromantik” als eine der Grundlagen für die völkische und rassistische Ideologie der Nazis gilt. Die heutige Kritik am Fortschritt, am Industrialismus, am Dogma der stets wachsenden Wirtschaft kommt teilweise von Naturwissenschaftlern, aber vor allem von den vielen Menschen in den neuen sozialen Bewegungen – der Ökologie-, der Frauen-, der Friedensbewegung. Die meisten dieser Menschen gehören zu den Lohn- und Gehaltsabhängigen, das heißt, sie haben kein Produktiveigentum zu verteidigen. Zwar sind sie, im Vergleich zu der Mehrzahl der Menschen auf der Erde, privilegiert durch ihren Lebensstandard. Es ist auch richtig, daß viele von ihnen immer noch glauben, dieser Lebensstandard ließe sich bei einer gleichzeitigen ökologischen Umgestaltung aufrechterhalten. Und es ist auch richtig, daß sich viele dieser Menschen vor diesem Dilemma dadurch drücken, daß sie jene Sehnsuchtsorte touristisch und romantisch verklären.

Doch drängt sich immer mehr Menschen in den Industrieländern die Wahrheit auf, daß die Rede von der ”ökologischen Umgestaltung der Industriegesellschaft” ein Betrug ist, daß beides zusammen nicht zu haben ist: dauerndes Wirtschaftswachstum und eine gute, gesunde Umwelt, sich selbst erhaltende ökologische Kreisläufe und ständig steigender Warenkonsum. Allein an der Abfallfrage (Atomarer Abfall, Chemieabfall, Haushaltsabfall) wird dies schon deutlich. Der Müll der Industriegesellschaft macht uns endgültig klar, daß wir auf einem begrenzten Planeten leben, daß die unerwünschten Folgeerscheinungen der industriellen Warenproduktion unweigerlich wieder auf uns selbst zurückfallen. Es gibt kein Außen mehr, alle künstlichen Abgrenzungen zwischen „Zivilisation“ und „Wildheit“ brechen materiell zusammen. Darum hilft auch das St.-Florians-Prinzip nicht mehr weiter.

Diese Einsichten haben überall zur Radikalisierug der Umweltbewegung geführt. Zwar hängen viele ökologisch besorgte Menschen in den Industrieländern noch der Illusion an, die Wissenschaftler und Politiker würden es noch einmal schaffen, uns aus der Sackgasse des Industriesystems durch neue technologische Entwicklungen hinauszuführen, doch dies wird zunehmend zu einem verzweifelten Festhalten an einem alten Glauben, zu einem Pfeifen im Wald.

”Behaltet euren Fortschrit und eure Entwicklung”

Was die heutige Industrialismus- und Fortschrittskritik außerdem von früheren, meist konservativen Bewegungen unterscheidet, ist die Tatsache, daß es nicht nur städtische Mittelklassenangehörige in den Industrieländern sind, die den Betrug durch die verwirklichte Utopie der Moderne einsehen, sondern ebenso Menschen, die heute am untersten Ende der weltweiten Wirtschafts- und Ausbeutungspyramide stehen, die um die Erhaltung der ökonomischen und ökologischen Grundlagen ihrer Existenz kämpfen. Das sind zum einen Gruppen und Gemeinschaften, die noch in Resten der alten Subsistenzökonomie (Selbstversorgungswirtschaft) leben und heute massiv durch die aggressive Durchsetzung des Modernisierungsprogramms in der Dritten Welt bedroht sind: die Stämme in den Regenwaldgebieten Brasiliens und Borneos; die Kleinbauern und Stammesangehörigen, die durch große Staudammprojekte in Indien von ihrem angestammten Land vertrieben werden sollen; die Menschen in Ladakh, die sich der ”Entwicklung” des Landes durch den Tourismus widersetzen;3 die Frauen der Chipko-Bewegung in Nordindien, die sich gegen Holzfällerfirmen und Kalkbergwerke wehren und ihre unabhängige, ökologisch intakte Subsistenzbasis durch das ”Umarmen der Bäume” verteidigen, oder ähnliche Bewegungen in anderen Teilen Indiens.4

Ähnliche Bewegungen sind aber auch in Regionen zu beobachten, die schon einmal in den zweifelhaften Genuß der „modernen Entwicklung“ gekommen sind und jetzt durch die ökologische und ökonomische Krise, vor allem verursacht durch Verschuldung und Unzuverlässigkeiten des Weltmarktes, erfahren müssen, daß sie betrogen wurden, daß sie vom internationalen Kapital fallengelassen werden, wenn sie die Zinsen für ihre Kredite nicht zahlen können. Dann folgt der Entwicklung die Ent-Entwicklung, der Industrialisierung die De-Industrialisierung.

Wenn die Menschen in diesen Regionen dann noch irgendeinen Zugang zum Land haben, kehren sie zur Selbstversorgung, zur Subsistenzproduktion zurück, weil es keine andere Alternative gibt. Beispiele für diesen Prozeß gibt es in Mexiko, Nigeria, Uganda, Peru und Venezuela, aber auch in Osteuropa. Dabei bedeutet ”Zurück oder Vorwärts zur Selbstversorgung” keineswegs eine ländlich-romantische Marotte von entfremdeten Zivilisationsmüden, sondern die einzige verbliebene Überlebensmöglichkeit.

In diesen Bewegungen und Prozessen wird aber gerade in der Dritten Welt auch das Entwicklungsmodell der Industrieländer als Ganzes in Frage gestellt.5 Während der FINRRAGE-UBINIG-Konferenz im März 1989 in Bangladesh, bei der es um einen internationalen Austausch unter Frauen über die ”Errungenschaften” der modernen Gen- und Reproduktionstechnik ging, sagte eine Teilnehmerin aus Sambia: ” Wenn das der Fortschritt ist, dann könnt ihr ihn behalten, dann wollen wir ihn nicht.”6

Besonders bei den einfachen Menschen in den Basisbewegungen der Dritten Welt hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß diese Entwicklung, dieser Fortschritt sie des letzten Restes ihrer ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebensgrundlagen, ihrer Lebenszusammenhänge, ihrer Kultur, vor allem ihrer Freiheit und Menschenwürde und ihrer Autonomie berauben wird. Für sie ist dieser ”Fortschritt”, diese Entwicklung nicht wünschenswert. Anders als die bereits ihrer Selbstversorgungsbasis beraubten städtischen Mittelklassen und Arbeiter in den Industrieländern, sind sie immun gegen die Verführungen des Industrie-Schlaraffenlandes. Ihre Widerstandsbewegungen sind daher alles andere als romantisch und sentimental. Sie sind entsprungen aus der Notwendigkeit, ihr eigenes Überleben zu verteidigen.

Maria Mies

1 Marina Gambaroff u.a.: Tschernobyl hat unser Leben verändert, Reinbek 1986.

2 Rolf-Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde – Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1986

3 Helena Norberg-Hodge: Ancient Futures: Learning from Ladakh, London 1987

4 Vandana Shiva: Das Geschlecht des Lebens – Frauen, Ökologie und Dritte Welt, Berlin 1989

5 Moema Viezzer (Hrsg.): Mit Wissen und Witz – Frauen in der nachhaltigen Entwicklung: Landwirtschaft und Sammelwirtschaft; in: Subsistenz-Rundbrief Nr. 5, Köln 1994

6 FINRRAGE-UBINIG: International Conference; Declaration of Comilla, Hamburg 1989.

Der Text ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung des Aufsatzes „Sie sehnen sich nach dem, was sie zerstört haben“, zuerst erschienen in „Ökofeminismus – Beiträge zur Praxis und Theorie“. Wir danken dem Rotpunktverlag Zürich für die freundliche Genehmigung.


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